Mittwoch, 20. Januar 2010

Hilft Entwicklungshilfe?

von Frédéric Valin

Angesichts der Katastrophe in Haiti kocht die Debatte über Entwicklungshilfe wieder auf. Die Zeit schreibt angesichts der Unterernährung von 60 Prozent der Bevölkerung über die vier Milliarden Dollar Entwicklungshilfe der letzten Jahre: „Viel gebracht hat die Hilfe bisher offensichtlich nicht.“ Das ist der Augenschein. Es geht aber auch komplizierter.
Das Beben
Zwischen 50.000 und 200.000 Toten soll das Erdbeben in Haiti gefordert haben; doch genau diese Formulierung, dass es das Erdbeben war, das die Toten „gefordert“ hat, ist verantwortungslos.
Wissenschaftler warnen schon länger vor der Gefahr von Erdbeben in der Region, zuletzt Bill McGuire 2008. McGuires Bericht sagt voraus, dass es nicht das letzte Beben in den nächsten Jahren bleiben wird, sondern noch stärkere folgen werden. Dass dieses Beben so viele Opfer gefordert hat, dafür machen Geologen wie Chuck DeMets drei Faktoren verantwortlich: Erstens war es ein oberflächliches Beben, das weniger Zeit ließ, die Bevölkerung zu warnen. Zweitens ist Port-au-Prince nicht auf solidem Feld gebaut, sondern auf Schollen, die sich bei Beben dieser Stärke verschieben. Und drittens sind die Häuser in Haitis Hauptstadt nicht bebenresistent.
Diese Faktoren und die Tatsache, dass das Beben eine dichtbesiedelte Region traf, erklären zwar die verheerenden Auswirkungen, mit denen Haiti jetzt zu kämpfen hat. Gleichzeitig aber kommt wieder und wieder die Frage auf, warum Haitis Infrastruktur eine effektive Hilfeleistung vor Ort beinahe verhindert – und warum die Häuser in Port-au-Prince derart anfällig waren. Denn seit Jahrzehnten schon fließen große Summen Entwicklungshilfe nach Haiti, aber – wie in vielen anderen Ländern auch, die durch Geld der Industriestaaten alimentiert werden – ohne, dass die Hilfe Ergebnisse zeigt.
Und im Hintergrund steht immer die Frage: Hilft Entwicklungshilfe? Oder nicht?
Kritker
James Shikwati ist ein gern gesehener Interviewpartner zum Thema Entwicklungshilfe. James Shikwati hat die notwendige Glaubwürdigkeit, denn er ist Kenianer. Und er spricht laut aus, was viele in den Industrieländern leise denken: Entwicklungshilfe bringt nichts. Sie schadet dem Unternehmergeist, sie verändert die Mentalität in den Nehmerländern, und das Geld wird so lange der Patronagestruktur entlang verteilt, bis am Ende für die Hilfsbedürftigen nichts mehr übrig bleibt. Unter anderem Der Spiegel führt Shikwati halbjährlich als Kronzeugen dafür ins Feld, dass Entwicklungshilfe mehr Schaden anrichtet, als sie hilft. Aktuell hat das Wall Street Journal seinen Aufruf, den Geldhahn abzudrehen, gedruckt: „For God’s sake, please stop.“
Interessant wäre es zu erfahren, was Shikwati selbst sagen würde, wenn seine Geldgeber ihm den Hahn zudrehen. Seine Organisation „Iren“ wird gesponsort von liberalkonservativen Thinktanks aus den USA, er ist Mitglied in der „International Society for Individual Liberty“, die in der Entwicklungspolitik eine Laisser-faire-Haltung einnehmen: dass also der Markt es schon richten wird, auch in Entwicklungsländern. Es sind sehr banale Ideen, die Shikwatis Erfolg begründen, und Thesen, die seit Jahren widerlegt sind.
Dass er so einen großen Erfolg hat, liegt aber nicht nur daran, dass er sagt, was so viele denken: Entwicklungshilfe bringt nichts. Es liegt auch daran, dass NGOs und Experten sich zurückhalten bei der Kritik der Entwicklungshilfe und tatsächliche Missstände nicht klar benennen.
Schwierigkeiten
Da wären zum einen die mangelnde politische Kohärenz: so unterminiert beispielsweise die EU ihre Unterstützung landwirtschaftlicher Initiativen in der Sahelzone durch den Export ihrer eigenen, subventionierten Agrarprodukte und durch Lebensmittellieferungen. Außerdem arbeiten NGOs und Projekte häufig nicht nachhaltig genug: nicht jede Oraganisation lässt sich so sehr auf Umweltbedingungen ein wie die Eden Foundation, sondern bekämpft momentan vorhandene Missstände, um bei veränderter politischer Lage wieder die Zelte abzubrechen. Ohne ein schlüssiges Konzept für die Bewohner hinterlassen zu haben.
Einen interessanten und streitbaren Punkt greift Dieter Neubert auf: Anders als Geldof und Bono meint er, momentan fließe nicht zu wenig Geld in die Entwicklungshilfe, sondern eher zu viel.
Ernstzunehmende Kritiker weisen zu recht darauf hin, dass eher zu viel als zu wenig Geld in das System der Entwicklungshilfe fließt. Viele Entwicklungsorganisationen und auch die NGOs klagen immer wieder über ein „Mittelabflussproblem“: Es gibt gemessen an den zur Verfügung stehen Mitteln oft nicht genügend sinnvolle konkrete Vorhaben. Weniger könnte in diesen Fällen mehr sein.
Dazu auch Transparency International: Korruption in der Entwicklungsarbeit
Entscheidend dabei, ob Entwicklungshilfe tatsächlich hilft, sind die Begebenheiten vor Ort. Dazu gehört in erster Linie auch ein politisches System, das stabil ist und sich nicht ausschließlich an den Ressourcen des Landes bereichert, sondern die Bürger bei der Selbsthilfe zumindest nicht hindert. Good enough governance nennt man das.
Perspektiven
In dieser Hinsicht hatte Haiti 2006 einen großen Fortschritt gemacht: Nach der jahrelangen Diktatur unter den Duvaliers übernahm René Préval die Führung des Landes. Er gilt als zuverlässig und integer. Mithilfe der mehrheitlich brasilianischen Blauhelm-Mission konnte wieder etwas Ruhe hergestellt werden in dem von bürgerkriegsähnlichen Zuständen gebeutelten Land.
Vier Jahre sind keine Zeit, um eine Entwicklung aufzuholen; es wird noch lange dauern, bis Haiti sich stabilisiert hat. Und das Erdbeben hat viele Bemühungen zunichte gemacht. Das ist die große Tragödie Haitis: In dem Moment, als es wieder aufwärts zu gehen schien, stürzte der Himmel ein.
Tatsächlich kann man nach vier Jahren noch kaum sagen, auf welchem Weg sich Haiti vor dem Beben befand. Ziel muss es sein, wie bei jedem Entwicklungsland, die ökologischen Schäden durch Abholzung und Raubbau rückgängig zu machen, den Bewohnern vor Ort eine Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu versorgen und den braindrain zu unterbinden. Um die bewaffneten Banden in den Slums unter Kontrolle zu halten, wird wohl die Militärpräsenz verstärkt werden müssen.
In der FAZ hat Matthias Rüb die Situation so zusammengefasst:
Das Gelingen dieses historischen Experiments ist nicht sicher, das Scheitern aber auch nicht. Haiti steht vielleicht an einem Neuanfang. Am Ende ist Haiti nicht. Auf Kreolisch: Ayiti pa fini!
Und damit es Hoffnung gibt, braucht Haiti Entwicklungsgelder. All den Unkenrufen zum Trotz.
Christophe Warny: Ein Dollar am Tag und ein Handy. In Haiti ist der Staat eine brökelnde Fassade

SZ-Interview mit Felix Prinz zu Löwenstein

Hier kann man die Spreeblick-Spendenaktion „Rettungsanker“ unterstützen, ein Interview mit Thilo Reichenbach vom Bündnis „Aktion Deutschland Hilft“, an das die Spenden gehen, gibt es hier zu hören.

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