Michael Hildebrandt ist ein einfacher Mann, der immer hart gearbeitet hat. Als er in seinem erlernten Beruf als Maschinenschlosser keinen Job mehr fand, sattelte er zum Lageristen um. Jahrzehntelang stapelte er Möbel, sortierte Autoersatzteile, hievte in einem Lebensmittelgroßmarkt schwere Kisten in Regale.
Jetzt, im Alter von 58 Jahren, ist er plötzlich arbeitslos. Die norddeutsche Großhandelsfirma Citti hat ihn gefeuert, weil er aus einem zu Bruch gegangenen Karton eine Milchschnitte gegessen hatte. Der süße Snack kostet im Supermarkt 26 Cent.
Hildebrandts Schicksal reiht sich nahtlos ein in eine Serie spektakulärer Rausschmisse, die in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit empörten: Einer 58-jährigen Konstanzer Altenpflegerin wurde fristlos gekündigt, weil sie sechs Maultaschen mitnehmen wollte, die eigentlich für die Mülltonne bestimmt waren. Eine Sekretärin sollte trotz 34-jähriger Betriebszugehörigkeit fliegen, weil sie von einem für Gäste bestimmten Imbiss eine Frikadelle und zwei halbe Brötchen verspeiste. Ein Oberhausener Industriearbeiter sollte den Laufpass bekommen, weil er sein Handy an einer Steckdose der Firma auflud - was einen Schaden von 0,014 Cent verursachte.
Gemein ist all diesen sogenannten Bagatellkündigungen: Sie künden von einer bemerkenswerten Verrohung der Sitten auf dem Arbeitsmarkt. Denn sehr oft dienen die Verfehlungen nur als Vorwand, um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden.
"Unfassbare Lappalien"
In Krisenzeiten wie diesem Jahr, in denen täglich Tausende Kündigungen ausgesprochen werden, steigt die Anzahl der Arbeitsgerichtsprozesse ohnehin - in Hamburg etwa wird mit einer Zunahme von über elf Prozent gegenüber 2008 gerechnet, in Berlin sind es sogar zwölf Prozent. Und immer wieder sind darunter Prozesse, bei denen es um schier unfassbare Lappalien geht.
Voraussetzung für fristloses Feuern ist laut Paragraf 626 des Bürgerlichen Gesetzbuches das Vorliegen eines "wichtigen Grundes". Und zwar so wichtig, dass den Vertragspartnern eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses "nicht zugemutet werden kann".
Aber was ist ein wichtiger Grund? Die Mitnahme von drei nicht mehr verkäuflichen Fischbrötchen, wie das Arbeitsgericht Frankfurt am Main zuungunsten einer Küchenhilfe entschied? Der vermutete Diebstahl eines 500-Gramm-Brotes, wie das Nürnberger Landesarbeitsgericht urteilte und damit den Rausschmiss eines Teigmachers nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit für rechtens erklärte? Das Einlösen zweier Leergutbons im Wert von 1,30 Euro, wie es der Kassiererin Barbara E. in einer Kaiser's-Filiale zum Verhängnis wurde?
Solche und ähnliche Entscheidungen widersprechen eklatant dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürger. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) sprach ihnen aus der Seele, als er das Berliner Pfandbon-Urteil "barbarisch" nannte. "Da fehlt doch jedes Gespür für die Lebenswirklichkeit", pflichtet ein alter Christdemokrat bei, der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Dass überhaupt Gerichte und Anwälte in derart lächerlichen Fällen eingeschaltet würden, zeige doch nur, "wie zerrüttet die Verhältnisse schon sind".
"Bienenstich-Urteil" hat Maßstäbe gesetzt
Als Entscheidungsgrundlage vor Gericht muss oft ein als "Bienenstich-Urteil" bekanntgewordener Spruch des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1984 herhalten. Die Bundesrichter hatten über die fristlose Kündigung einer Backwarenverkäuferin zu befinden, die sich ein Stück Kuchen aus der Auslage genommen und verzehrt hatte. Die Entwendung noch so geringwertiger Sachen an sich rechtfertige eine Entlassung, argumentierten die Richter damals - und lieferten Generationen von Arbeitsrichtern die Blaupause.
"Das Urteil wird bis heute ständig wiedergekäut", moniert der ehemalige Bundesrichter Wolfgang Neskovic, heute rechtspolitischer Sprecher der Partei Die Linke. Dabei sei die Bienenstich-Entscheidung von bemerkenswerter juristischer Kälte geprägt: "Ein Kniefall vor der heiligen Kuh vom unantastbaren Eigentum der Arbeitgeber." Werte wie soziale Verantwortung und Menschlichkeit seien unberücksichtigt geblieben.
Einen Rausschmiss wegen Winzdelikten begründen Firmen oft mit dem entstandenen Vertrauensverlust. Der Stuttgarter Arbeitsrechtler Stefan Nägele hält das in den meisten Fällen für einen Vorwand. Der Fachanwalt, der vor Gericht sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer vertritt, hat bei zahlreichen Prozessen eine ganz andere Erfahrung gemacht: "Gekündigt werden nur die, die man loswerden will. Bei zehn anderen passiert beim gleichen Delikt überhaupt nix."
Was die Frage nahelegt, ob Lagerarbeiter Hildebrandt bei Citti auf einer Art schwarzen Liste stand. Sandra Thomsen, die Personalchefin der Großhandelsfirma, will dazu aus "grundsätzlichen Erwägungen" nichts sagen. Jedoch: Andere Kollegen, die sich laut Hildebrandt ebenfalls aus dem beschädigten Karton bedienten, sind bei Citti noch immer in Lohn und Brot.
Fest steht: Michael Hildebrandt war zum Zeitpunkt seiner Kündigung längst nicht mehr so fit wie bei seinem Firmeneintritt 2001. Nachdem er im Lebensmittellager jahrelang schwere Paletten hatte stemmen müssen, hielt er den Job aufgrund eines Bandscheibenvorfalls nur noch mit Hilfe starker Tabletten durch. Ein Arzt bescheinigte ihm degenerative Veränderungen an der Halswirbelsäule, an den Schultern und den Knien sowie Schäden an der Lendenwirbelsäule mit Lähmungserscheinungen an beiden Unterschenkeln.
Bagatellkündigungen treffen häufig die kleinen Arbeitnehmer
Hildebrandt fehlte häufiger wegen Krankheit, musste zeitweise in eine Klinik, darf laut ärztlichem Attest keine Lasten von über fünf Kilogramm mehr heben. Eigentlich, erklärte ihm ein Vorgesetzter nach einem Reha-Aufenthalt, habe die Firma keine Verwendung mehr für ihn; er wurde in die Joghurt-Abteilung versetzt, wo die Paletten nicht ganz so schwer sind.
Zum Verzehr der Milchschnitte, sagt Hildebrandt, hätten ihn die Kollegen aufgefordert: "Mensch Michael, nimm dir doch auch so 'n Ding, es ist genug für alle da." Der Arbeiter griff deshalb bedenkenlos zu - und war auch völlig arglos, als er zwei Tage später zur Firmenleitung zitiert wurde.
Im Büro lag bereits ein unterschriftsreifer Aufhebungsvertrag, der seinen Abschied zum Monatsende regelte, ohne Abfindung, ohne Einhaltung einer Frist. Unterschreibe er nicht, hieß es in dem Papier, sei eine fristlose Kündigung "unumgänglich". Für diesen Fall, erinnert sich Hildebrandt, sei ihm mündlich mit einer Diebstahlsanzeige gedroht worden. "Völlig überrumpelt" unterschrieb er: "Ich stand unter seelischem Druck, konnte keinen klaren Gedanken fassen."
Betroffen sind meist die am unteren Ende der Lohnskala
Als er tags darauf den Schock überwunden hatte und den Vertrag anfocht, folgte prompt die fristlose Kündigung. Vor dem Hamburger Arbeitsgericht, wo Gewerkschaftsmitglied Hildebrandt von einem DGB-Anwalt vertreten wurde, kam es immerhin zu einem Vergleich: Der Rausschmiss wurde in eine fristgerechte Kündigung umgewandelt, Hildebrandt erhielt rund vier Monatslöhne als Abfindung.
Heute lebt Hildebrandt von Arbeitslosengeld und Hartz IV. Seine Versuche, im Berufsleben wieder Fuß zu fassen, sind gescheitert. Auf seine vielen Bewerbungen als Lagerist bekam der alleinstehende Mann bisher nicht eine einzige Antwort.
Seine Geschichte ist exemplarisch. Bagatellkündigungen treffen häufig Arbeitnehmer am unteren Ende der Lohnskala: angelernte Verkäuferinnen, Altenpflegerinnen, Sekretärinnen, Arbeiter, kleine Angestellte. Menschen, deren Arbeitskraft im Bedarfsfall leicht ersetzbar ist.
In den oberen Etagen geht es meist weniger robust zu. "Schon auf der mittleren Führungsebene gelten andere Wertvorstellungen", weiß Fachanwalt Nägele. Wenn Manager sich Vergünstigungen herausnehmen, dann werde dies oft zähneknirschend geduldet. Und komme es doch zur Trennung, so berichtet der Jurist aus Erfahrung, einige man sich häufig außergerichtlich auf eine generöse Abfindung. Nägeles Fazit: "Es wird mit zweierlei Maß gemessen."
Gilt das auch für die Justiz? Es ist kaum ein Fall bekannt, in dem ein Gericht eine Führungskraft wegen eines Bagatelldelikts um die Existenz gebracht hätte. Im Gegenteil: Das Oberlandesgericht Celle hob zum Beispiel die fristlose Kündigung eines Geschäftsführers auf, der im Verdacht stand, mit einer firmeneigenen Kreditkarte Privatausgaben von umgerechnet rund 83 Euro bezahlt zu haben. Begründung: Ein derart geringfügiger Betrag allein rechtfertige keine außerordentliche Kündigung.
Politiker fordern "Bagatellgrenze"
Damit künftig gleiche Maßstäbe gelten, fordern Rechtspolitiker wie der Linke Neskovic eine "die Arbeitsgerichte bindende Bagatellgrenze" als Grundlage für Kündigungen. Seine Partei will einen entsprechenden Antrag im Parlament einbringen. Auch Umstände wie etwa langjährige Betriebszugehörigkeit und Leistungsbereitschaft sollen mehr als bisher berücksichtigt werden. Und die Möglichkeit, unliebsame Mitarbeiter sogar wegen des bloßen Verdachts auf Kleindiebstähle rauszuwerfen, soll unterbunden werden.
Neben einem solchen "Verbot der Verdachtskündigung" will Anette Kramme, neue arbeitspolitische Sprecherin der SPD, auch durchsetzen, dass jeder Bagatellkündigung zwingend eine Abmahnung vorausgehen muss. Ihre Fraktion will eine diesbezügliche Gesetzesänderung vorschlagen.
"Wenn unsere Arbeitswelt nicht mehr von Ethik bestimmt wird, brauchen wir halt noch mehr Paragrafen", befürwortet Ex-Minister Blüm solche Vorstöße. Auch der Christdemokrat favorisiert eine Bagatellgrenze.
Doch wo soll eine solche Obergrenze enden? Bei 10 Euro? Bei 20 Euro? Bei 100 Euro? Neskovic plädiert dafür, sich am Strafrecht zu orientieren. Diebstähle, bei denen der Warenwert unter 25 Euro liegt, ob am Arbeitsplatz, im Kaufhaus oder im Bus, führen selten zu einer Verurteilung, werden in vielen Fällen wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Um Arbeitgeber vor dem Dauerklau diebischer Angestellter zu schützen, sind freilich Einschränkungen notwendig. Die Schutzvorschrift dürfe nur für das erste Mal gelten, argumentieren Rechtsexperten, sie dürfe nicht als Freifahrtschein missbraucht werden. Schon beim zweiten Vergehen könne die Schadenshöhe nicht mehr der wichtigste Maßstab sein.
"Spätkontrolle! Öffnen Sie bitte Ihre Tasche!"
Gäbe es eine Bagatellgrenze bereits, hätte es einen Fall wie den der Verkäuferin Yvonne Arlt nie gegeben. Der diente sogar als Vorlage für ein Schauspiel, das derzeit auf der Bühne des Stuttgarter Staatstheaters aufgeführt wird; eine Neufassung des Stücks "Nachtasyl" von Maxim Gorki.
Im wirklichen Leben spielt das Drama bei der Drogeriemarktkette Schlecker. Dort, in einer Filiale im Stuttgarter Stadtteil Münster, sortiert die dunkelhaarige Frau seit sieben Jahren Waren ein, schrubbt den Fußboden, sitzt an der Kasse. Manche ihrer Nachbarn nennen sie "Frau Schlecker".
"Bin ich jetzt schuld, dass du keine Arbeit mehr hast?"
Yvonne Arlt geht gern in den Laden, kennt viele Kunden persönlich, steht zu ihrer Firma. Nachdem das Geschäft an Fasching von einem Maskierten überfallen worden war, der ihr eine Pistole an die Schläfe hielt, arbeitete sie, kaum dass die Spurensicherung abgezogen war, weiter, als wäre nichts geschehen. Nur einmal fiel sie auf: Als Gewerkschaftsmitglied beteiligte sich Yvonne Arlt an einem eintägigen Warnstreik für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne.
Wenige Tage später, es ist ein schwüler Juniabend und die Verkäuferin allein im Geschäft, zieht ein mächtiges Gewitter über Stuttgart. Kurz vor Feierabend kommt die zehnjährige Tochter, die sich vor Blitz und Donner fürchtet und nicht allein zu Hause bleiben will, verängstigt in den Laden gerannt. Yvonne Arlt setzt sie in einen Nebenraum, erledigt die Abrechnung.
Das Kind quengelt, es habe solchen Hunger auf Suppe, die Mutter, schwer genervt, holt für das Abendessen eine Dose Hühnersuppe, Verkaufspreis 1,99 Euro, aus der Lebensmittelabteilung. Bezahlen kann sie jedoch nicht mehr, sie hat die Kasse selbst gerade geschlossen. "Deshalb schrieb ich einen Zettel für die Kollegin, habe an der Kasse zwei Euro dazugelegt", erinnert sie sich. Als sie die Ladentür abschließen will, steht plötzlich die Bezirksleiterin hinter ihr: "Spätkontrolle! Öffnen Sie bitte Ihre Tasche!"
"Bin ich jetzt schuld, dass du keine Arbeit mehr hast?"
Yvonne Arlt weiß, dass sie gegen die Betriebsordnung verstoßen hat. Personaleinkäufe müssen grundsätzlich von einem anderen Schlecker-Mitarbeiter auf dem Kassenbon gegengezeichnet werden, wer allein im Laden ist, darf nichts mitnehmen. Aus Angst vor Konsequenzen schwindelt sie deshalb, sie habe die Dose bei einer Kollegin bezahlt. Spätabends ruft sie die Bezirksleiterin an, gesteht die Wahrheit. Und versichert, dass sie ja bezahlen wollte.
Die fristlose Kündigung wegen versuchten Diebstahls, verkündet am Tag danach, stürzt die alleinerziehende Mutter, die sich nicht schuldig fühlt, in Verzweiflung. Sie wird krank, kann tagelang nicht essen und nicht schlafen. Ihre Tochter fragt: "Bin ich jetzt schuld, dass du keine Arbeit mehr hast?"
Der Vorwurf des Betriebsrats, der wirkliche Grund für den Rausschmiss sei Yvonne Arlts Teilnahme am Streik, und ihr Beispiel solle anderen Mitarbeitern Angst vor Arbeitskämpfen einjagen, wird vom Drogerie-Discounter zurückgewiesen. "Sachfremde Erwägungen spielen in keinem Fall eine Rolle", erklärte ein Firmensprecher im Gespräch mit dem SPIEGEL. Bei Schlecker werde das Instrument der fristlosen Kündigung stets "sorgfältig und mit Augenmaß" angewandt, "jedoch konsequent und in jedem Fall bestimmungskonform".
Wohl auch deshalb hat Schlecker - nach Intervention von Betriebsrat und Gewerkschaft - die fristlose Kündigung zurückgenommen. Und schrieb Yvonne Arlt zwei Abmahnungen: eine wegen versuchten Warendiebstahls, die andere zum Thema "Aufenthalt am Arbeitsplatz". Sollte die Tochter noch einmal entgegen den Bestimmungen außerhalb der Öffnungszeiten oder in den Nebenräumen in der Filiale angetroffen werden, drohe die "Beendigung des Arbeitsverhältnisses". Im Klartext: Wenn das Mädchen die Mutter nach Ladenschluss von der Arbeit abholen will, muss sie vor der Tür warten.
Zudem drohte die Firma, ihre langjährige Mitarbeiterin künftig "verstärkt in die Optik" zu nehmen. Seitdem wird während ihrer Dienstzeit häufig kontrolliert, ob keine Produkte mit abgelaufenem Verfallsdatum in den Regalen stehen, ob richtig geputzt ist, ob Yvonne Arlt nichts in die Tasche gesteckt hat. Sie weiß, dass die kleinste Verfehlung nach den zwei Abmahnungen zum Rauswurf führen kann. Doch sie ist heilfroh, noch einen Arbeitsplatz zu haben. Auf Abruf.
Hildebrandts Schicksal reiht sich nahtlos ein in eine Serie spektakulärer Rausschmisse, die in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit empörten: Einer 58-jährigen Konstanzer Altenpflegerin wurde fristlos gekündigt, weil sie sechs Maultaschen mitnehmen wollte, die eigentlich für die Mülltonne bestimmt waren. Eine Sekretärin sollte trotz 34-jähriger Betriebszugehörigkeit fliegen, weil sie von einem für Gäste bestimmten Imbiss eine Frikadelle und zwei halbe Brötchen verspeiste. Ein Oberhausener Industriearbeiter sollte den Laufpass bekommen, weil er sein Handy an einer Steckdose der Firma auflud - was einen Schaden von 0,014 Cent verursachte.
Gemein ist all diesen sogenannten Bagatellkündigungen: Sie künden von einer bemerkenswerten Verrohung der Sitten auf dem Arbeitsmarkt. Denn sehr oft dienen die Verfehlungen nur als Vorwand, um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden.
"Unfassbare Lappalien"
In Krisenzeiten wie diesem Jahr, in denen täglich Tausende Kündigungen ausgesprochen werden, steigt die Anzahl der Arbeitsgerichtsprozesse ohnehin - in Hamburg etwa wird mit einer Zunahme von über elf Prozent gegenüber 2008 gerechnet, in Berlin sind es sogar zwölf Prozent. Und immer wieder sind darunter Prozesse, bei denen es um schier unfassbare Lappalien geht.
Voraussetzung für fristloses Feuern ist laut Paragraf 626 des Bürgerlichen Gesetzbuches das Vorliegen eines "wichtigen Grundes". Und zwar so wichtig, dass den Vertragspartnern eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses "nicht zugemutet werden kann".
Aber was ist ein wichtiger Grund? Die Mitnahme von drei nicht mehr verkäuflichen Fischbrötchen, wie das Arbeitsgericht Frankfurt am Main zuungunsten einer Küchenhilfe entschied? Der vermutete Diebstahl eines 500-Gramm-Brotes, wie das Nürnberger Landesarbeitsgericht urteilte und damit den Rausschmiss eines Teigmachers nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit für rechtens erklärte? Das Einlösen zweier Leergutbons im Wert von 1,30 Euro, wie es der Kassiererin Barbara E. in einer Kaiser's-Filiale zum Verhängnis wurde?
Solche und ähnliche Entscheidungen widersprechen eklatant dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürger. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) sprach ihnen aus der Seele, als er das Berliner Pfandbon-Urteil "barbarisch" nannte. "Da fehlt doch jedes Gespür für die Lebenswirklichkeit", pflichtet ein alter Christdemokrat bei, der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Dass überhaupt Gerichte und Anwälte in derart lächerlichen Fällen eingeschaltet würden, zeige doch nur, "wie zerrüttet die Verhältnisse schon sind".
"Bienenstich-Urteil" hat Maßstäbe gesetzt
Als Entscheidungsgrundlage vor Gericht muss oft ein als "Bienenstich-Urteil" bekanntgewordener Spruch des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1984 herhalten. Die Bundesrichter hatten über die fristlose Kündigung einer Backwarenverkäuferin zu befinden, die sich ein Stück Kuchen aus der Auslage genommen und verzehrt hatte. Die Entwendung noch so geringwertiger Sachen an sich rechtfertige eine Entlassung, argumentierten die Richter damals - und lieferten Generationen von Arbeitsrichtern die Blaupause.
"Das Urteil wird bis heute ständig wiedergekäut", moniert der ehemalige Bundesrichter Wolfgang Neskovic, heute rechtspolitischer Sprecher der Partei Die Linke. Dabei sei die Bienenstich-Entscheidung von bemerkenswerter juristischer Kälte geprägt: "Ein Kniefall vor der heiligen Kuh vom unantastbaren Eigentum der Arbeitgeber." Werte wie soziale Verantwortung und Menschlichkeit seien unberücksichtigt geblieben.
Einen Rausschmiss wegen Winzdelikten begründen Firmen oft mit dem entstandenen Vertrauensverlust. Der Stuttgarter Arbeitsrechtler Stefan Nägele hält das in den meisten Fällen für einen Vorwand. Der Fachanwalt, der vor Gericht sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer vertritt, hat bei zahlreichen Prozessen eine ganz andere Erfahrung gemacht: "Gekündigt werden nur die, die man loswerden will. Bei zehn anderen passiert beim gleichen Delikt überhaupt nix."
Was die Frage nahelegt, ob Lagerarbeiter Hildebrandt bei Citti auf einer Art schwarzen Liste stand. Sandra Thomsen, die Personalchefin der Großhandelsfirma, will dazu aus "grundsätzlichen Erwägungen" nichts sagen. Jedoch: Andere Kollegen, die sich laut Hildebrandt ebenfalls aus dem beschädigten Karton bedienten, sind bei Citti noch immer in Lohn und Brot.
Fest steht: Michael Hildebrandt war zum Zeitpunkt seiner Kündigung längst nicht mehr so fit wie bei seinem Firmeneintritt 2001. Nachdem er im Lebensmittellager jahrelang schwere Paletten hatte stemmen müssen, hielt er den Job aufgrund eines Bandscheibenvorfalls nur noch mit Hilfe starker Tabletten durch. Ein Arzt bescheinigte ihm degenerative Veränderungen an der Halswirbelsäule, an den Schultern und den Knien sowie Schäden an der Lendenwirbelsäule mit Lähmungserscheinungen an beiden Unterschenkeln.
Bagatellkündigungen treffen häufig die kleinen Arbeitnehmer
Hildebrandt fehlte häufiger wegen Krankheit, musste zeitweise in eine Klinik, darf laut ärztlichem Attest keine Lasten von über fünf Kilogramm mehr heben. Eigentlich, erklärte ihm ein Vorgesetzter nach einem Reha-Aufenthalt, habe die Firma keine Verwendung mehr für ihn; er wurde in die Joghurt-Abteilung versetzt, wo die Paletten nicht ganz so schwer sind.
Zum Verzehr der Milchschnitte, sagt Hildebrandt, hätten ihn die Kollegen aufgefordert: "Mensch Michael, nimm dir doch auch so 'n Ding, es ist genug für alle da." Der Arbeiter griff deshalb bedenkenlos zu - und war auch völlig arglos, als er zwei Tage später zur Firmenleitung zitiert wurde.
Im Büro lag bereits ein unterschriftsreifer Aufhebungsvertrag, der seinen Abschied zum Monatsende regelte, ohne Abfindung, ohne Einhaltung einer Frist. Unterschreibe er nicht, hieß es in dem Papier, sei eine fristlose Kündigung "unumgänglich". Für diesen Fall, erinnert sich Hildebrandt, sei ihm mündlich mit einer Diebstahlsanzeige gedroht worden. "Völlig überrumpelt" unterschrieb er: "Ich stand unter seelischem Druck, konnte keinen klaren Gedanken fassen."
Betroffen sind meist die am unteren Ende der Lohnskala
Als er tags darauf den Schock überwunden hatte und den Vertrag anfocht, folgte prompt die fristlose Kündigung. Vor dem Hamburger Arbeitsgericht, wo Gewerkschaftsmitglied Hildebrandt von einem DGB-Anwalt vertreten wurde, kam es immerhin zu einem Vergleich: Der Rausschmiss wurde in eine fristgerechte Kündigung umgewandelt, Hildebrandt erhielt rund vier Monatslöhne als Abfindung.
Heute lebt Hildebrandt von Arbeitslosengeld und Hartz IV. Seine Versuche, im Berufsleben wieder Fuß zu fassen, sind gescheitert. Auf seine vielen Bewerbungen als Lagerist bekam der alleinstehende Mann bisher nicht eine einzige Antwort.
Seine Geschichte ist exemplarisch. Bagatellkündigungen treffen häufig Arbeitnehmer am unteren Ende der Lohnskala: angelernte Verkäuferinnen, Altenpflegerinnen, Sekretärinnen, Arbeiter, kleine Angestellte. Menschen, deren Arbeitskraft im Bedarfsfall leicht ersetzbar ist.
In den oberen Etagen geht es meist weniger robust zu. "Schon auf der mittleren Führungsebene gelten andere Wertvorstellungen", weiß Fachanwalt Nägele. Wenn Manager sich Vergünstigungen herausnehmen, dann werde dies oft zähneknirschend geduldet. Und komme es doch zur Trennung, so berichtet der Jurist aus Erfahrung, einige man sich häufig außergerichtlich auf eine generöse Abfindung. Nägeles Fazit: "Es wird mit zweierlei Maß gemessen."
Gilt das auch für die Justiz? Es ist kaum ein Fall bekannt, in dem ein Gericht eine Führungskraft wegen eines Bagatelldelikts um die Existenz gebracht hätte. Im Gegenteil: Das Oberlandesgericht Celle hob zum Beispiel die fristlose Kündigung eines Geschäftsführers auf, der im Verdacht stand, mit einer firmeneigenen Kreditkarte Privatausgaben von umgerechnet rund 83 Euro bezahlt zu haben. Begründung: Ein derart geringfügiger Betrag allein rechtfertige keine außerordentliche Kündigung.
Politiker fordern "Bagatellgrenze"
Damit künftig gleiche Maßstäbe gelten, fordern Rechtspolitiker wie der Linke Neskovic eine "die Arbeitsgerichte bindende Bagatellgrenze" als Grundlage für Kündigungen. Seine Partei will einen entsprechenden Antrag im Parlament einbringen. Auch Umstände wie etwa langjährige Betriebszugehörigkeit und Leistungsbereitschaft sollen mehr als bisher berücksichtigt werden. Und die Möglichkeit, unliebsame Mitarbeiter sogar wegen des bloßen Verdachts auf Kleindiebstähle rauszuwerfen, soll unterbunden werden.
Neben einem solchen "Verbot der Verdachtskündigung" will Anette Kramme, neue arbeitspolitische Sprecherin der SPD, auch durchsetzen, dass jeder Bagatellkündigung zwingend eine Abmahnung vorausgehen muss. Ihre Fraktion will eine diesbezügliche Gesetzesänderung vorschlagen.
"Wenn unsere Arbeitswelt nicht mehr von Ethik bestimmt wird, brauchen wir halt noch mehr Paragrafen", befürwortet Ex-Minister Blüm solche Vorstöße. Auch der Christdemokrat favorisiert eine Bagatellgrenze.
Doch wo soll eine solche Obergrenze enden? Bei 10 Euro? Bei 20 Euro? Bei 100 Euro? Neskovic plädiert dafür, sich am Strafrecht zu orientieren. Diebstähle, bei denen der Warenwert unter 25 Euro liegt, ob am Arbeitsplatz, im Kaufhaus oder im Bus, führen selten zu einer Verurteilung, werden in vielen Fällen wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Um Arbeitgeber vor dem Dauerklau diebischer Angestellter zu schützen, sind freilich Einschränkungen notwendig. Die Schutzvorschrift dürfe nur für das erste Mal gelten, argumentieren Rechtsexperten, sie dürfe nicht als Freifahrtschein missbraucht werden. Schon beim zweiten Vergehen könne die Schadenshöhe nicht mehr der wichtigste Maßstab sein.
"Spätkontrolle! Öffnen Sie bitte Ihre Tasche!"
Gäbe es eine Bagatellgrenze bereits, hätte es einen Fall wie den der Verkäuferin Yvonne Arlt nie gegeben. Der diente sogar als Vorlage für ein Schauspiel, das derzeit auf der Bühne des Stuttgarter Staatstheaters aufgeführt wird; eine Neufassung des Stücks "Nachtasyl" von Maxim Gorki.
Im wirklichen Leben spielt das Drama bei der Drogeriemarktkette Schlecker. Dort, in einer Filiale im Stuttgarter Stadtteil Münster, sortiert die dunkelhaarige Frau seit sieben Jahren Waren ein, schrubbt den Fußboden, sitzt an der Kasse. Manche ihrer Nachbarn nennen sie "Frau Schlecker".
"Bin ich jetzt schuld, dass du keine Arbeit mehr hast?"
Yvonne Arlt geht gern in den Laden, kennt viele Kunden persönlich, steht zu ihrer Firma. Nachdem das Geschäft an Fasching von einem Maskierten überfallen worden war, der ihr eine Pistole an die Schläfe hielt, arbeitete sie, kaum dass die Spurensicherung abgezogen war, weiter, als wäre nichts geschehen. Nur einmal fiel sie auf: Als Gewerkschaftsmitglied beteiligte sich Yvonne Arlt an einem eintägigen Warnstreik für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne.
Wenige Tage später, es ist ein schwüler Juniabend und die Verkäuferin allein im Geschäft, zieht ein mächtiges Gewitter über Stuttgart. Kurz vor Feierabend kommt die zehnjährige Tochter, die sich vor Blitz und Donner fürchtet und nicht allein zu Hause bleiben will, verängstigt in den Laden gerannt. Yvonne Arlt setzt sie in einen Nebenraum, erledigt die Abrechnung.
Das Kind quengelt, es habe solchen Hunger auf Suppe, die Mutter, schwer genervt, holt für das Abendessen eine Dose Hühnersuppe, Verkaufspreis 1,99 Euro, aus der Lebensmittelabteilung. Bezahlen kann sie jedoch nicht mehr, sie hat die Kasse selbst gerade geschlossen. "Deshalb schrieb ich einen Zettel für die Kollegin, habe an der Kasse zwei Euro dazugelegt", erinnert sie sich. Als sie die Ladentür abschließen will, steht plötzlich die Bezirksleiterin hinter ihr: "Spätkontrolle! Öffnen Sie bitte Ihre Tasche!"
"Bin ich jetzt schuld, dass du keine Arbeit mehr hast?"
Yvonne Arlt weiß, dass sie gegen die Betriebsordnung verstoßen hat. Personaleinkäufe müssen grundsätzlich von einem anderen Schlecker-Mitarbeiter auf dem Kassenbon gegengezeichnet werden, wer allein im Laden ist, darf nichts mitnehmen. Aus Angst vor Konsequenzen schwindelt sie deshalb, sie habe die Dose bei einer Kollegin bezahlt. Spätabends ruft sie die Bezirksleiterin an, gesteht die Wahrheit. Und versichert, dass sie ja bezahlen wollte.
Die fristlose Kündigung wegen versuchten Diebstahls, verkündet am Tag danach, stürzt die alleinerziehende Mutter, die sich nicht schuldig fühlt, in Verzweiflung. Sie wird krank, kann tagelang nicht essen und nicht schlafen. Ihre Tochter fragt: "Bin ich jetzt schuld, dass du keine Arbeit mehr hast?"
Der Vorwurf des Betriebsrats, der wirkliche Grund für den Rausschmiss sei Yvonne Arlts Teilnahme am Streik, und ihr Beispiel solle anderen Mitarbeitern Angst vor Arbeitskämpfen einjagen, wird vom Drogerie-Discounter zurückgewiesen. "Sachfremde Erwägungen spielen in keinem Fall eine Rolle", erklärte ein Firmensprecher im Gespräch mit dem SPIEGEL. Bei Schlecker werde das Instrument der fristlosen Kündigung stets "sorgfältig und mit Augenmaß" angewandt, "jedoch konsequent und in jedem Fall bestimmungskonform".
Wohl auch deshalb hat Schlecker - nach Intervention von Betriebsrat und Gewerkschaft - die fristlose Kündigung zurückgenommen. Und schrieb Yvonne Arlt zwei Abmahnungen: eine wegen versuchten Warendiebstahls, die andere zum Thema "Aufenthalt am Arbeitsplatz". Sollte die Tochter noch einmal entgegen den Bestimmungen außerhalb der Öffnungszeiten oder in den Nebenräumen in der Filiale angetroffen werden, drohe die "Beendigung des Arbeitsverhältnisses". Im Klartext: Wenn das Mädchen die Mutter nach Ladenschluss von der Arbeit abholen will, muss sie vor der Tür warten.
Zudem drohte die Firma, ihre langjährige Mitarbeiterin künftig "verstärkt in die Optik" zu nehmen. Seitdem wird während ihrer Dienstzeit häufig kontrolliert, ob keine Produkte mit abgelaufenem Verfallsdatum in den Regalen stehen, ob richtig geputzt ist, ob Yvonne Arlt nichts in die Tasche gesteckt hat. Sie weiß, dass die kleinste Verfehlung nach den zwei Abmahnungen zum Rauswurf führen kann. Doch sie ist heilfroh, noch einen Arbeitsplatz zu haben. Auf Abruf.
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