Karl-Ludwig Günsche, Kapstadt
Der Papst lehnt Kondome ab - für die Hilfsorganisationen in Kapstadts Elendsvierteln sind sie die beste Aids-Prävention. Die kostenlose Verteilung hat die Infektionsrate dramatisch gesenkt. Ein Lehrstück für die Kirche.
Es ist eine elende Bretterhütte am Rande von Khayelitsha, dem größten Township vor den Toren Kapstadts. Unter einer grauen Wolldecke kaum sichtbar liegt Mary auf einer ärmlichen Matratze. Ausgezehrt, kraftlos. Viel mehr als 30 oder 40 Kilogramm wiegt die junge Frau nicht mehr. Mary hat Aids im Endstadium. Sie ist 19 Jahre alt. Vor drei Jahren hat sie sich angesteckt, beim berühmten “ersten Mal”. Mary ist zu spät zum Arzt gegangen. Sie hatte Angst vor dem “Stigma”, dem Ausgestoßenwerden durch die Familie und die Freunde.
Also ging sie zu einem Sangoma, einen traditionellen Heiler, der sie mit Kräutern und Beschwörungen behandelte. Erst als sie immer kränker wurde, ging sie in eins der städtischen Gesundheitszentren in ihrem Township. Dort erfuhr sie die tödliche Wahrheit: HIV-positiv. Die Krankheit war nicht mehr zu stoppen.
Marys Stimme ist so leise, dass sie kaum zu hören ist: “Ich war jung und dumm. Ich wusste damals nicht, dass man sich mit Kondomen schützen kann. Aber solange ich noch kann, predige ich meinen Brüdern und Schwestern, dass sie Kondome benutzen sollen, wenn ihnen ihr Leben lieb ist.”
Eine alltägliche Geschichte aus einem Elendsviertel, in dem Armut und Aids Alltag sind. Doch Khayelitsha ist auch eine Erfolgsgeschichte im Kampf gegen Aids: Um die Jahreswende 2004/2005 startete die Stadtverwaltung Kapstadt gemeinsam mit privaten Hilfsorganisationen wie der “Treatment Action Group” eine gigantische Kondom-Aufklärungs- und Verteilungskampagne. Denn obwohl in Khayelitsha nur elf Prozent der Kapstädter Bevölkerung leben, waren dort 34 Prozent aller Fälle sexuell übertragener Krankheiten registriert - mit Aids an der Spitze.
Virginia de Azevedo, Leiterin des Projektes, sagt rückblickend: “Kaum einer hat mit einem Erfolg gerechnet. Afrikanische Männer würden die Gummidinger ablehnen. Die Kondome würden massenweise unbenutzt auf den Straßen rumliegen, warnten mich die Leute. Das Gegenteil trat ein: Die Nachfrage wuchs.” Beim Start verteilten Dr. de Azevedo und ihre Mitstreiter statistisch gesehen an jeden über 15-jährigen männlichen Bewohner von Khayelitsha pro Jahr 23 Kondome. Sie hatten sich das “unerreichbare” Ziel gesetzt, jährlich eine Million Kondome pro Monat kostenlos “an den Mann” zu bringen - in den öffentlichen Toiletten, in Kneipen, Taxis, Büchereien, an Tankstellen.
Die Infektionsrate sank um 50 Prozent
Das Millionen-Ziel ist inzwischen nicht nur erreicht, sondern übertroffen. Statistisch gesehen versorgt sich jeder männliche Township-Bewohner inzwischen mit 104 kostenlosen Kondomen im Jahr. Die Infektionsrate mit sexuell übertragenen Krankheiten sank in nur drei Jahren um dramatische 50 Prozent.
“Ich kann jedem beweisen, dass der Kondomgebrauch die Verbreitung von HIV drastisch einschränken kann, auch dem Papst,” sagt Virginia de Azevedo kämpferisch. “Im Kampf gegen Aids spielen Kondome eine sehr, sehr große Rolle. Der Papst weiß offensichtlich nicht, wovon er spricht.” Benedikt XVI. hatte auf dem Weg zu einer Afrika-Reise geäußert, die Benutzung von Kondomen verschlimmere das Aids-Problem - und war dafür massiv kritisiert worden.
Nicht nur die tägliche Praxis in den Townships in Südafrika, auch wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Kondome eine Schlüsselrolle bei der Eindämmung der Seuche spielen. Langzeitstudien der Universitäten Lausanne, Washington und Oxford ergaben, dass Kondome weder die Promiskuität noch die sexuelle Aktivität fördern, dafür aber die Ansteckungsrate mit sexuell übertragenen Krankheiten drastisch senken können.
John Santelli von der Columbia Universität New York fasst die Ergebnisse der Studien zusammen: “Keuschheit ist eine sehr gesunde Wahl für Teenager. Aber sexuelle Aufklärung junger Menschen bedeutet vor allem, dass man ihnen jede medizinisch korrekte Information gibt, die sie brauchen, um sich selbst zu schützen.” Dr. Mary Rotheram-Borus von der Universität von Kalifornien in Los Angeles sagt es noch klarer: “Programme zur Förderung des Kondomgebrauchs haben in den europäischen Ländern zu einer substanziellen Reduzierung von Teenager-Schwangerschaften und -Geburten sowie von sexuell übertragenen Krankheiten geführt.”
Nicht nur in Europa, auch in Afrika, wo die meisten HIV-positiven Menschen leben, kann der Großeinsatz von Kondomen die Ansteckungsraten dramatisch senken. Das Vorzeigeprojekt ist Uganda: Staatspräsident Yoweri Kaguta Museveni engagierte sich bereits 1986 persönlich sehr stark für ein Aids-Vorbeugungsprogramm. Die Seuche wütete damals vor allem in den ländlichen Gebieten des Landes. 1987 starteten Regierung und Hilfsorganisationen das “ABC-Programm” (abstain, be faithful, use condoms - sei keusch, sei treu, benutze Kondome). Der Erfolg war überwältigend: Von 18 Prozent (1992) sank die HIV-Infektionsrate auf 6,4 Prozent (2005).
“Enthaltsamkeit können sie denen doch nicht predigen”
Schwester Christine in der Ivan-Tom-Klinik in Mfuleni braucht weder wissenschaftliche Untersuchungen noch Statistiken. Sie erlebt tagtäglich, wie der Verzicht auf Schutzmaßnahmen Leben zerstören kann. “Sex ohne Kondom bedeutet bei denen, die HIV-positiv sind, dass sie jedes Mal ihrem Immunsystem einen neuen Todesstoß versetzen”, sagt die 53-jährige Krankenschwester. “Ich habe schon viele elend sterben sehn, die heute noch leben könnten, wenn sie Kondome benutzt hätten.”
Vor allem für Paare, bei denen ein Partner HIV-positiv, der andere aber negativ sei, sei der Kondomgebrauch Pflicht. “Enthaltsamkeit können sie denen doch nicht predigen. Wir sagen auch den Frauen: Wenn euer Partner euch nicht schützen will, müsst ihr eben Kondome für Frauen benutzen.” In der Ivan-Tom-Klinik sind an jeder Ecke Kondom-Spender aufgehängt. Die verstärkte Verteilung von Frauen-Kondomen ist das neue Ziel in Mfuleni und in Khayelitsha. Dort kann Dr. de Azevedo erste Erfolge vermelden: Von 2006 bis 2007 stieg die Zahl der in Khayelitsha kostenlos abgegebenen Kondome für Frauen von 23.000 auf 125.515
Auch für Babalwa Lumko, die seit vier Jahren für das von dem katholischen deutschen Pfarrer Stefan Hippler in Kapstadt gegründete Aids-Programm HOPE arbeitet, gibt es keinen Zweifel am Nutzen von Kondomen. “Natürlich ist Keuschheit der beste Schutz. Aber Vorbeugung ist besser als sterben. Kondome helfen nicht 100-prozentig, aber 99-prozentig”, sagt sie. “Vor allem hat die Propagierung von Kondomen bei uns im Township zu einem Bewusstseinswandel beigetragen. Für die meisten jungen Leute ist es ganz selbstverständlich, zum Gummi zu greifen.”
Die erfahrene Gesundheitsarbeiterin und überzeugte Methodistin kann über den Papst nur den Kopfschütteln: Sie ist täglich im Township unterwegs, spricht mit den Menschen, berät sie und klärt sie auf. Sie hat auch die Sterbenden gesehen, für die - wie für Mary in Khayelitsha - jede Hilfe zu spät kam. Erst vor kurzem musste sie wieder hilflos mit ansehen, wie eine junge Frau qualvoll gestorben ist.
Sie war erst 36 Jahre alt, eine einfache Frau. Sie wusste immerhin, dass ihr Partner HIV-positiv war. Aber als er ungeschützten Sex wollte, war für sie selbstverständlich: Ich muss tun, was der Mann will. “Als sie zu uns kam, war es zu spät. Sie hatte aus Angst vor dem ‘Stigma’ zu lange gezögert. Ein kleines Gummiding hätte ihr Leben retten können.”
Kwezi Rasmeni von der Hilfsorganisation "Treatment Action Campaign" führt im Township Khayelitsha bei Kapstadt vor, wie ein Kondom abgerollt wird