Züge brauchen Strom, Züge brauchen Signalanlagen, ohne die können sie nicht fahren. Bei dem Bahnprojekt Stuttgart 21 ist das in den Planungen jedoch nicht vorgesehen. Das zeigen interne, vertrauliche Dokumente, aktuelle Projektanalysen und -berichte von Deutschlands umstrittenstem Bauprojekt, die dem stern vorliegen. Danach herrschen bei den Planern Chaos und Panik. In Briefen an die DB Projektbau AG wird "das Risikopotenzial" beklagt, weil "rohbaurelavante Angaben" für die vorgesehenen Tunnelarbeiten fehlen. Intern sieht man das "Gesamtprojekt auf kritischem Weg".
Demnächst sollen die Arbeiten für die Tunnel vergeben werden, allerdings, wie die Projektberichte zeigen, "ohne eisenbahntechnische Ausrüstung". Oberleitungen sind in den Tunnel ebenso wenig vorgesehen wie Signalanlagen. In einem Protokoll vom Juli heißt es: "Aktuell fehlen systemrelevante Entscheidungen im Hinblick auf Oberleitungsanlagen und Signaltechnik." Und: "Derzeit keine Zulassung für System Stromschiene bei Geschwindigkeit 160 km/h."
Insgesamt sind für S21 Tunnelröhren von mehr als 60 Kilometer Länge in Stuttgart geplant. Da der Untergrund in der baden-württembergischen Landesshauptstadt sehr tückisch ist, werden die Tunnel von den üblichen "Regelprofilen" abweichen: Sie werden kleiner und enger, sie haben einen reduzierten Radius von nur 4,05 Metern - zu schmal für die übliche bahntechnische Ausrüstung.
Und so wird in Stuttgart mit dem modernen europäischen Signalsystem, dem European Train Control System (ETCS), für Hochgeschwindigkeitszüge geplant. Der Vorteil: Man braucht keine klobigen Masten, in den Gleisen liegen winzige Kästchen, sogenannte Balisen. Über Funk werden die Loks gesteuert. Allerdings: In Deutschland gibt es keinen Zug, der mit dem ETCS-System fährt. In Stuttgart wird also ein Verkehrsknoten geplant, der auch in Zukunft für die meisten Züge unerreichbar sein wird, denn: Die Aufrüstung der Züge mit ETCS ist extrem teuer, sie kostet pro Lok gut 300.000 Euro. S-Bahnen, Nahverkehrs- und Regionalzüge, die S21 anfahren sollen, werden damit in den kommenden Jahrzehnten kaum ausgestattet werden.
Kosten geraten aus dem Ruder
Absehbar: Die Tunnel in Stuttgart werden mit üblichen Signalsystemen nachgerüstet werden müssen - das wird Zeit und viel Geld kosten.
Ständig ist in den Projektanalysen die Rede von "Handlungsbedarf", "Mehrkosten", "erhöhten Kosten", "Kostenrisiken". So ist aus den Dokumenten ersichtlich, dass die offiziellen Kosten von S21 in Höhe von 4,088 Milliarden nach oben korrigiert werden müssen. In einer Analyse vor einigen Wochen heißt es lapidar, dass die vom Bauherrn gewünschte "Kosteneinsparung nicht in vollem Umfang erzielt werden" kann.
Auf Hunderten von Seiten werden Mängel aufgelistet, Verstöße gegen Normen angemahnt. In einem Protokoll "Talquerung mit Hauptbahnhof" heißt es: "Wenn Auflagen aus den Fachtechnischen Prüfungen nicht in der Planung umgesetzt werden, wird keine Freigabe der Planung erfolgen, das Projekt kann nicht weitergeführt werden." Selbst grundlegende Sicherheitsfragen sind noch unbeantwortet. So monieren Ingenieure, dass die gültigen Auflagen für "Brandschutztore bisher in der Entwurfsplanung noch nicht umgesetzt" wurden und dass "die Umsetzung der Brandschutzmaßnahmen (...) bisher nicht geplant" sind.
Die Cousine der Kanzlerin
Für Stuttgart 21 soll der denkmalgeschützte Bahnhof zum Teil abgerissen werden, der Nordflügel ist schon weg. Wie der Rest des alten Bahnhofs aussehen soll, ist unklar, es gibt Streit mit der Denkmalbehörde. Klar ist bislang nur eins: "Korrektur der Kostenberechnung. Budgeterhöhung für S21 oder Ausgliederung aus S21 erforderlich."
Kanzlerin Angela Merkel hat sich rückhaltlos hinter S21 gestellt. In ihrer Familie ist, wie der stern erfahren hat, das Bauprojekt heftig umstritten. Ihre Cousine in Stuttgart ist "Parkschützerin", hat also per Unterschrift erklärt, sich gegen das für S21 notwendige Abholzen der Bäume im Stuttgart Schlosspark zu wehren. Wenn es sein muss, wird sich die Cousine der Kanzlerin an die Bäume ketten.
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