Sonntag, 21. November 2010

„Ich möchte unter freiem Himmel sterben“

Michael de Ridder. - Foto: Mike Wolff
Moderne Medizin kann vieles – doch wann darf ein Mensch das Leben verlassen? Michael de Ridder ist dem Tod 1000-mal begegnet. Ein Gespräch zum Totensonntag

Michael de Ridder, 63, ist als Internist Chefarzt der Rettungsstelle im Berliner Urban-Krankenhaus, wo er seit 25 Jahren arbeitet – lange Zeit als Notarzt und auf der Intensivstation. De Ridder gilt als wichtige Stimme in der Debatte um die Palliativmedizin. Sein Buch „Wie wollen wir sterben?“ erschien bei DVA

Herr de Ridder, es war Allerheiligen und Volkstrauertag, dieses Wochenende ist Totensonntag. Bedeuten Ihnen solche Gedenktage etwas?
Nein. Ich bin zwar streng katholisch erzogen worden: Messdiener, Weihrauch schwenken bei Hochämtern, Jesuitenschule... Davon ist gar nichts übrig geblieben. Also geben mir auch diese Tage nichts.

Sie meiden die Grabstätten Ihrer Angehörigen?
Ich gehe gerne auf Friedhöfe, ich pflege auch das Grab meiner Mutter in Kreuzberg, ich pflanze Blumen an. Nur nicht an speziellen Tagen, sondern wenn ich Lust dazu verspüre. Ich vergegenwärtige mir dann meine Mutter, ich weiß, dass Fäulnisprozesse sie da unten längst mit dem Erdreich haben eins werden lassen, ich denke an meine eigene Endlichkeit und spüre, dass ich mit großer Unsicherheit vor den Ereignissen Sterben und Tod stehe.

Macht Sie das melancholisch?
Ich lebe gerne, bin noch weitgehend gesund und genussfähig, und in diesem Zustand vom Leben scheiden zu müssen, dieser Gedanke macht mich wehmütig. Wie das wäre im Zustand von Krankheit und schwerstem Leid? Hoffentlich fällt mir da der Abschied leicht.

Sie haben als Rettungsarzt und Intensivmediziner hunderte Male Menschen sterben oder tot gesehen...
...vielleicht sind es tausend gewesen...
...und wissen: Hilft da der Glaube an einen Himmel, an Wiedergeburt?
Es kommt mir manchmal so vor, als hätten tief religiöse Menschen einen Vorteil. Auch mein Vater, er hatte eine schwere Tumorerkrankung, schien mir gut aufgehoben in dem Rückgriff auf seine Religiosität. Es steht ja das Versprechen auf etwas Jenseitiges im Raum, ewiger Friede, das Paradies.

Andererseits drohen Fegefeuer und Höllenqualen.
Dafür gibt es Rituale der Entlastung, das Sakrament der letzten Ölung, die Beichte, um Sünde und Schuldhaftigkeit zu überwinden.

Wenn das Konzept Religion so gut hilft: Glauben Sie doch einfach wieder!
Auch wenn es arrogant klingen mag: Ich habe das nicht nötig. Ich fühle mich in der Natur gut aufgehoben, als Teil eines Prozesses vom ewigen Werden und Vergehen. Auch das kann Ruhe und Gelassenheit vermitteln.

Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal eine Leiche gesehen haben?
Das war meine Großmutter, ich war fünf Jahre alt. Ich muss da gestanden haben mit offenem Mund, völlig konsterniert. Denn ich habe die Großmutter sehr geliebt. Als der Arzt kam, um den Tod festzustellen, hat er das gut mit mir gemacht und gesagt, komm, fühl mal den Fuß. Und der war eiskalt. Großmutter war für mich die Wärme in Person, morgens durfte ich zu ihr ins Bett schlüpfen, ein wahres Heizkraftwerk, diese Geborgenheit war ein großes Glück. Und dieser kalte Fuß signalisierte mir: Jetzt ist etwas Schreckliches passiert.

Sie starb daheim.
Ja, es wurden Kerzen aufgestellt, Heiligenbilder, der Rosenkranz um die gefalteten Hände geschlungen. Es war still im Zimmer, aber auch Leben, es wurde gegessen. Ich habe das als angenehme Situation in Erinnerung.

Haben Sie mal jemanden sterben sehen und gedacht: So möchte ich das auch hinbekommen?
Ein Freund von mir war schwer krank, konnte aber bis kurze Zeit vor seinem Tod gehen und differenziert sprechen. Er hat eine sehr bewusste Entscheidung getroffen und das Essen und Trinken eingestellt. Er wollte die Hoheit über sein eigenes Sterben nicht aus der Hand geben. Er erschien mir völlig angstfrei, er konnte glaubwürdig vermitteln, er erlebe das Sterben als Befreiung, fast hätte ich gesagt: mit Freude. Das hat mich tief beeindruckt.

Wenn Sie beruflich mit dem Tod zu tun haben, können Sie sich Gefühle nicht leisten.
Oh doch, ich erlaube mir zu weinen, nicht in jeder Situation, sondern wenn der Tod mich ergriffen hat. Selbst im Krankenhaus habe ich Menschen begleitet, die mir dann als Tote begegnet sind, das konnte mir schon die Tränen in die Augen treiben.

Das klingt nicht gerade professionell.
Es ist auch nicht unproblematisch. Doch das passiert mir ja nicht, solange ich jemanden ärztlich versorgen muss. Da habe ich mich im Griff. Es tritt nur irgendwann der Moment ein, da sehe ich, das Sterben steht unmittelbar bevor. Und das ist die Situation, in der jede Hektik des Tuns und Machens unterbrochen werden muss. Nichts macht mich ärgerlicher, als wenn ich sehe, dass der Sterbeprozess eines Menschen durch völlig sinnlose medizinische Interventionen gestört wird. Da noch eine Braunüle legen, eine Infusion anlegen, ein Medikament spritzen! Obwohl offensichtlich ist, dass da jemand in den nächsten Minuten das Leben verlässt und man nur noch Respekt davor walten lassen sollte.

Der betreffende Arzt wollte vielleicht einfach keinen Fehler machen und...
...das ist wahnwitzig! Wann darf der Mensch denn sterben? Es gibt für mich keinen größeren Kunstfehler, als den Sterbeprozess zu verkennen. Medizin ist doch nicht dazu da, das Sterben grundsätzlich zu verhindern. Medizin ist dazu da, vorzeitiges und qualvolles Sterben zu verhindern. Der für mich zentrale Begriff ist das Patientenwohl. Nur daran muss ich mich als Arzt orientieren. Wenn ich nicht mehr kurieren kann, muss ich palliativ behandeln und begleiten. Letzteres ist ein dem kurativen Auftrag gleichwertiger Teil des ärztlichen Auftrags.

Können Sie das erklären?
Palliativ bedeutet, nicht die Heilung steht im Vordergrund, sondern allein das Wohlbefinden, unabhängig von der zu erwartenden Lebensdauer.

Die Linderung von Leiden und Schmerz?
Schmerz ist am Lebensende ein untergeordnetes Symptom. Viel häufiger sind Angst und Unruhe. Und das kann und muss der Arzt lindern.
Was denken Sie: Spüren wir unser Ende kommen?
Ich glaube, ja.

Immer wieder berichten Menschen vom Nahtod, von hellem Licht oder einer Vogelperspektive auf die Welt. Harald Juhnke meinte: „Ich sah alles rosarot.“
Die Herzaktion setzt aus, das Bewusstsein schwindet, Sie werden mit einem elektrischen Schock reanimiert, innerhalb von Sekunden schlägt das Herz wieder, Sie öffnen die Augen und wissen nicht, was geschah – das ist die einfachste Form, die Nähe von Tod und Leben zu erfahren. Was in diesem Moment erinnert wird, gilt als Nahtoderlebnis.

Haben Sie ein Beispiel?
Ein Bekannter von mir erzählte das so: Er fühlte sich in eine immer enger werdende Spirale gleiten, einem Strudel ähnlich, und als seine Sinne nach dem elektrischen Herzschock zurückkehrten, wurde er durch die Röhre zurückkatapultiert.

Den friedlichen Tod haben Sie beschrieben, wie sieht der grässliche aus?
Wenn er auf grausame Weise kommt und bei Bewusstsein erlebt wird. Ich habe das als Notarzt bei einer türkischen Hochzeit in der Hasenheide erlebt. Die Braut hatte ein zu großes Stück Hühnerfleisch in die Luftröhre bekommen, es hing dort fest. Trotz aller Versuche sie wiederzubeleben, die Braut ist an ihrem Hochzeitstag erstickt.

Werden Sie solche Eindrücke wieder los?
Ich habe Bilder im Kopf, die bleiben. Das Bild eines Erhängten im Dachstuhl. Wir wurden nachts um vier nach Schöneberg gerufen, gingen die Treppen hoch, und im fahlen Licht der Taschenlampen hing einer am Balken. Oder „Person unter Zug“, so der Alarmierungsbegriff der Feuerwehr, die sehen in der Regel grauenhaft aus. Ich war mehrfach in U-Bahnhöfen und habe nur noch ölverschmierte Bündel gefunden mit amputierten Gliedmaßen.

Träumen Sie davon?
Das quält mich nicht im Schlaf. Ich beschäftige mich mehr mit dem Sterben, wenn ich wach bin.

Und dann denken Sie nie: Verdammt, warum arbeite ich nicht auf der Geburtsstation, da sieht man meist glückliche Gesichter!
Nein, ich habe mich mit der Montaigneschen Idee angefreundet, die Herausforderung des Lebens bestehe darin, das eigene Sterben zu gestalten.

Sie lasen als Medizinstudent die Schriften von Montaigne, einem Philosophen der Renaissance, und...
...nein, nein, da war ich älter. Es hat gedauert, meinen Weg als Arzt zu finden. Ich bin sehr froh, dass ich Vorbilder und Lehrer hatte wie Professor Dißmann. Ich empfand es immer als Privileg, viel lernen zu dürfen. Das Wichtigste daran ist vielleicht, dass ich mit dem Gedanken an das Sterben vertraut werden konnte. Ich habe berufliche Erfahrung mit allen Facetten des Todes, mit seiner Banalität, seiner Zufälligkeit und seiner Grausamkeit. Wie Millionen andere habe ich die Sehnsucht, friedlich zu sterben. Manche sprechen vom würdigen Sterben. Für mich ist würdiges Sterben friedliches Sterben, das wünsche ich jedem Menschen.

Wie vielen ist das vergönnt?
Man weiß nie, wie sich das von innen anfühlt, diese Erlebnisdimension hat kein Lebender. Doch wenn ich bedenke, dass fast drei Viertel der Menschen im Krankenhaus sterben, dazu kommen gewaltsame Tode... Friedlich zu sterben ist nicht die Regel.

In Skandinavien werden 60 Prozent durch Palliativmedizin versorgt, in Deutschland 2,5 Prozent. Bei der Vergabe von Morphium an Schwerkranke liegt Deutschland unter allen EU-Ländern an letzter Stelle. Wird so friedliches Sterben verhindert?
Ja, und das ist ein Fiasko. Wer Schmerzen hat, auch Angstzustände, für den ist Morphium ein wichtiges Mittel. Man muss dazu um seine Wirkung wissen. Morphium wirkt nicht am Ort, wo der Schmerz entsteht, es verändert das Schmerzerleben. Sie spüren den Schmerz, doch er interessiert Sie nicht. Zudem erleben Sie eine Euphorisierung. Diese und die damit einhergehende Gleichmut ist eine wunderbare Möglichkeit, den Sterbeprozess zum Wohl des Kranken zu steuern. Ich werde nie den Satz von Professor Dißmann vergessen: „Knausern Sie nicht mit der Dosis! Ich will den Patienten bei der nächsten Visite lächeln sehen.“

Was also läuft falsch?
Opiate werden immer noch stigmatisiert. Die bürokratischen Hürden ihrer Verordnung sind hoch, der Arzt muss die Mittel im Tresor verwahren, die Rezepte wieder woanders, es gilt besondere Vorschriften zu beachten und so weiter. Und dann ist da die vermeintliche Suchtgefahr.

Morphinisten wie der Schriftsteller Hans Fallada waren extrem süchtig.
Diese Leute suchten ganz andere Erlebnisse, den Kick, den Rausch. Alle Erfahrung von Ärzten sagt: Schmerzpatienten werden nie süchtig.

Es gibt Menschen, für die ist das Leben schlimmer als der Tod.
Es gibt da furchtbare Schicksale. Ich denke an eine junge Frau, sehr lebens- und bewegungsfroh, eine hochbegabte Naturwissenschaftlerin, die nach einem Unfall vom Hals an querschnittsgelähmt ist. Sie kann sprechen, essen, klar denken. Aber von ihrem Lebensentwurf ist nichts mehr übrig. Sie braucht rund um die Uhr Pflege. Nichts wird sich daran ändern, sie kann so noch 40 Jahre verbringen. Seit eineinhalb Jahren bin ich in engem Kontakt mit ihr, und ihr dringender Wunsch ist es zu sterben. Sehen Sie, die Errungenschaften der Intensivmedizin retten tagtäglich Tausende, und das ist wunderbar. Sie bringt aber auch Menschen in Existenzweisen, die maximale Qual bedeuten können. Die junge Frau fühlt sich lebendig begraben.

Sie wollen ihr beim Suizid helfen?
Ich sagte ihr, ich bleibe an ihrer Seite. Selbstverständlich muss sie optimale Bedingungen erfahren, um am Leben bleiben zu können und zu wollen, so viel Zuwendung wie möglich. Und der Sterbenwunsch muss lange durchdacht sein. Ein assistierter Suizid kann nur als äußerste Option gelten.

In der Schweiz ginge das.
Moment, ich will keine organisierte Sterbehilfe. Eine solche Hilfeleistung gehört in den Intimraum von Arzt und Patient, dazu gehört ein gewachsenes Vertrauensverhältnis zwischen den beiden. Sonst geht so etwas für mich nicht.

Sie haben da die Standesethiker gegen sich, die Kirchen sowieso: Das Leben, sagen die, ist in Gottes Hand und nicht in der eines Arztes.
Wo ist denn Gottes Hand auf der Intensivstation?! Die Schwester vergisst abzusaugen. Der Arzt beginnt zu spät mit der Reanimation. Jedes Jahr gibt es in deutschen Krankenhäusern 17 000 vermeidbare Todesfälle! Gottes Hand ist dann tatsächlich die Hand eines Arztes. Wir haben ein Grundgesetz, das die Selbstbestimmtheit festschreibt, und die beschränkt sich nicht nur auf das Leben, sondern auch auf das Sterben.
Sie schreiben in Ihrem Buch von einer „neuen Sterbekultur“. Wo, bitte, soll die herkommen?
Wir leben in einer Zeit von Botox-to-go, wo Alterslosigkeit heroisiert wird, das Motto ist: forever young! Da ist die Akzeptanz des Sterbens kein kommodes Thema. Selbst manche Wissenschaftler halten das Sterben für einen Unfall der Evolution, den es zu überwinden gilt.

Es gibt ganze Bücher mit letzten Worten von Prominenten. Heinrich Heine soll gesagt haben „Gott wird mir verzeihen, das ist sein Metier“, Winston Churchill „Es ist alles so langweilig“. Ist das realistisch?
Ich kenne niemanden, der mit einem bedeutungsschweren Satz auf den Lippen gestorben ist.

Der Schriftsteller Gore Vidal hat sich schon frühzeitig eine Grabstelle auf einem Friedhof in Washington gekauft, samt Stein darauf. Verstehen Sie das?
Ich finde es nicht eigenartig, ich würde es nur nicht machen. Ich unterscheide ja zwischen Sterben und Tod. Auf meinen Sterbeprozess möchte ich unbedingt Einfluss nehmen, was danach kommt, ist nicht bedeutend. Ein Freund von mir wurde verbrannt und seine Asche im Wald verstreut. Das ist mir sympathisch.

Der Philosoph Jacques Derrida meinte: „Es gibt keine Kultur ohne die Ritualisierung der Trauer und ohne Orte der Bestattung.“
Da mag er recht gehabt haben, vielleicht leben wir in einer Zeit, in der sich das auflöst. Viele brauchen keinen konkreten Ort des Erinnerns mehr, ich sehe darin keine kulturelle Verwahrlosung.

Wir vermuten mal, Sie würden gerne in einem Hospiz sterben, wenn schon nicht zu Hause.
Es gibt sehr schöne Hospize, ein wunderbares zum Beispiel über den Dächern von Neukölln. Aber wenn ich schon einen Wunsch frei habe: Da ich sehr naturverbunden bin, würde ich gern unter freiem Himmel sterben.

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