Donnerstag, 2. September 2010

Sarrazin in der Enge


Wie sich der Provokateur verrannt hat


Thilo Sarrazin ist seine eigene Debatte außer Kontrolle geraten. Plötzlich muss er die Sätze über Juden-Gene bedauern, eine zitierte Forscherin geht auf Distanz, Zweifel an seinen Thesen wachsen - und ein "Arschloch"-Wortwechsel mit Michel Friedman wird bekannt.


Berlin - Die Bundesbank will ihn loswerden. Die SPD auch. Die Politik errichtet ein Bollwerk gegen den Provokateur. Das ganze Land debattiert über sein Buch.
Und Thilo Sarrazin?


Hofft auf Rückhalt im Volk. Seine Migrationsthesen verfangen, das ist sein Kalkül - immer wieder führt er an, die Wissenschaft stütze seine Argumente.
Doch der Wind dreht. Zentrale Aussagen werden hinterfragt. Der Provokateur verliert die Kontrolle über seine eigene Debatte. Er muss sich inzwischen von seiner umstrittensten These distanzieren - dem Spruch über die Juden-Gene, und auch andere Behauptungen kann er nur schwerlich verteidigen. Ein Überblick.

  • Kontrollverlust
Im Anschluss an seine Buchvorstellung zu Wochenbeginn gab Sarrazin Michel Friedman ein Interview, das in der "BZ" gedruckt werden sollte. In "Bild" schildert der jüdische Publizist die Situation. "Die Stimmung während des Gesprächs war furchtbar", sagt Friedman. Das Interview drehte sich demnach um Sarrazins These zu einem angeblichen Gen, das alle Juden haben - dies hatte er in der "Welt" behauptet ("Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden").


Friedman: "Sarrazin reagierte zunehmend unwirsch auf mein Nachhaken. Er wollte sich den kritischen Fragen nicht stellen. Am Ende brach Sarrazins Presseagent das Interview entnervt ab." Dann soll Sarrazin gesagt haben: "Herr Friedman, heute waren sie ein Arschloch." Das Interview sei dann nicht gedruckt worden, weil Sarrazin es um kritische Passagen bereinigt habe wollen.


Sarrazins Version der Geschichte wurde nicht bekannt. Klar ist aber, dass er die Kontrolle über seine Botschaft, seine Debatte verloren hat und nun wegen ganz anderer Dinge in den Publikumsmedien steht.


Am Mittwochabend war er dann mit Friedman schon wieder in einer Talkshow - bei Frank Plasberg in der ARD.

  • Rückzieher bei der Juden-These
In genau dieser Sendung erlebten die Zuschauer dann auch eine erstaunliche Wendung zum Thema Juden und Gene. Mit seiner Formulierung zu diesem Thema hatte Sarrazin viele in der SPD und anderen Parteien zum endgültigen Bruch mit ihm getrieben. "Nah an der Rassenhygiene" sei die Argumentation, befand SPD-Chef Sigmar Gabriel.


Die Äußerung zu den Juden war ein Fehler - und so sieht es inzwischen auch Sarrazin selbst, erfuhr Plasbergs Publikum. "Das war erst mal ein Riesenunfug, was ich auch extrem bedauere", sagte der Bundesbanker, sprach dann von "Blackout" und "Dummheit"  und verkündete: "Ich bin definitiv nicht der Ansicht, dass es eine genetische Identität gibt."


Es klang wie eine Rücknahme seiner umstrittenen Äußerungen - doch beeilte sich Sarrazin zu versichern, dass er inhaltlich nichts zu korrigieren habe. Er sei von der "Welt" auf Glatteis geführt worden. Und: "Ich habe aber nichts Falsches gesagt." Natürlich gebe es "genetische Ähnlichkeiten. Mir fiel zuerst das Beispiel der Juden ein, weil ich dazu kurz vorher einen Aufsatz gelesen hatte. Ich hätte sagen sollen: Ostfriesen oder Isländer, dann wär's kein Thema gewesen." Fazit Sarrazin: "Es war eine inhaltliche Dummheit, keine inhaltliche Falschheit."


Dass derlei lavierende Aussagen reichen, um die SPD vom Ausschlussverfahren abzubringen, darf bezweifelt werden. "Das ist, wie die rechte Hand zum Schwur zu heben und die Finger der anderen Hand hinter dem Rücken zu kreuzen", sagt Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der nie ein Feind von Sarrazzin war.

  • Falsch verstandene Forscherin
Auch bei der anderen polarisierenden These, die Sarrazin so sehr in die Kritik gebracht hat, hat er sich offensichtlich verhoben. Es geht um die Aussage, Intelligenz sei bis zu 80 Prozent erblich, viele Ausländer in Deutschland kämen aus bildungsfernen Schichten - und weil die Geburtenraten von Ausländern so hoch seien, verdumme Deutschland.


Schon viele Wissenschaftler haben diese Argumentation auseinandergenommen. In der "FAZ" von diesem Donnerstag aber ist nun ein Interview mit der Zürcher Psychologin Elsbeth Stern zu lesen, auf die sich Sarrazin selbst stützt. Sie lehnt die Vereinnahmung durch Sarrazin strikt ab und wirft ihm indirekt Missbrauch ihrer Arbeiten vor: "Herr Sarrazin beruft sich auf Aussagen, die, aus dem Kontext gerissen und nicht korrekt wiedergegeben, zu Missverständnissen führen", sagt sie. "Er redet von 50 bis 80 Prozent Erblichkeit bei der Intelligenz. Das macht aber wissenschaftlich keinen Sinn." Man müsse von "Erblichkeit von Intelligenzunterschieden" sprechen. "Dazu müsste man verstanden haben, dass der Intelligenzquotient keine absolute Größe ist", sagt die Wissenschaftlerin. Das Interview liest sich wie eine Abrechnung:



Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern im Interview

Jeder kann das große Los ziehen

Die Zwillingsforschung zeigt: Gene haben eine große Bedeutung beim Zustandekommen von IntelligenzunterschiedenThilo Sarrazin beruft sich für sein Programm der positiven Selektion auf die Lernforschung der Psychologin Elsbeth Stern. Sie lehnt diese Vereinnahmung ab. Es mache keinen Sinn, davon zu sprechen, Intelligenz sei zwischen 50 und 80 Prozent erblich.Die Zwillingsforschung zeigt: Gene haben eine große Bedeutung beim Zustandekommen von Intelligenzunterschieden

Frau Stern, Thilo Sarrazin erwähnt Sie in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ als einen seiner Kronzeugen. Fühlen Sie sich verstanden oder missverstanden?
Herr Sarrazin beruft sich auf Aussagen, die, aus dem Kontext gerissen und nicht korrekt wiedergegeben, zu Missverständnissen führen. Er redet von 50 bis 80 Prozent Erblichkeit bei der Intelligenz. Das macht aber wissenschaftlichen keinen Sinn. Man muss von Erblichkeit von Intelligenzunterschieden sprechen. Dazu müsste man verstanden haben, dass der Intelligenzquotient keine absolute Größe ist, sondern die relative Abweichung einer Person vom Mittelwert des Testverfahrens beschreibt. In wissenschaftlichen Untersuchungen möchte man wissen, wie viel Prozent der Unterschiede auf Unterschiede in den Genen zurückzuführen sind. Dies kann man in statistischen Analysen ermitteln, in denen eineiige und zweieiige zusammen aufgewachsene Zwillingspaare verglichen werden.
Was wurde dabei festgestellt?
Elsbeth SternElsbeth Stern
In allen Studien findet man, dass eineiige Zwillingspaare eine deutlich höhere Übereinstimmung im IQ zeigen als zweieiige Zwillingspaare, obwohl beide Arten von Zwillingspaaren sehr ähnliche Erfahrungswelten haben (Gebärmutter, Kinderzimmer, Kita, Schule). Dies belegt die Bedeutung der Gene beim Zustandekommen von Unterschieden.

. . . und macht das Intelligenz-Gen dingfest?

Nein, man darf sich kein Intelligenz-Gen vorstellen, welches das Bearbeiten eines Intelligenztests steuert. Die genetischen Voraussetzungen zur Entwicklung von Intelligenz und ihren Unterschieden, über die wir bisher nur ganz wenig Detailwissen haben, können sich nur bei entsprechenden Lerngelegenheiten entfalten.

Sie werden von Sarrazin mit der Aussage zitiert, „dass die optimale Förderung eines jeden Schülers nicht zu mehr Gleichheit, sondern zu mehr Ungleichheit führt. Denn je größer die Chancengleichheit, desto mehr schlagen die Gene durch. Eine gute Schule, das mag nicht jedem gefallen, produziert Leistungsunterschiede auf hohem Niveau.“ Was meinen Sie damit?

Eine gute Schule sorgt dafür, dass sich jeder entsprechend seinen Voraussetzungen zu seinem Optimum entwickeln kann. In einer guten Schule lernt jeder mehr als in einer nicht so guten Schule. Der Durchschnittswert steigt an. Gleichzeitig können Menschen, die besonders gute Voraussetzungen mitbringen, gute Lerngelegenheiten so effizient nutzen, dass sie sich damit eine neue Welt erschließen. Beispiel: Von einer Grundschule, die sehr guten Leseunterricht macht, profitieren alle Kinder, auch die Schwächsten. Die besten Kinder aber werden sich schon früh eigenständig Bücher besorgen, und sie bauen ihren Vorsprung aus. Wir müssen es positiv sehen, wenn alle besser werden und manche noch stärker zulegen.

Ihre Wissenschaft, die Experimentelle Psychologie, spricht vom menschlichen Optimum, als handele es sich um eine abrufbare Fixgröße. Wenn man diesen Tribut an die Expertensprache leistet, was sagen dann Gesellschaftsordnungen über den Einfluss der Gene aus?

Im Prinzip gilt: Je größer die Leistungsgerechtigkeit einer Gesellschaft ist, um so größer ist die Chance, dass Menschen mit guten genetischen Voraussetzungen ihr in den Genen angelegtes Potential für die Intelligenzentwicklung nutzen und beruflichen und schulischen Erfolg haben. In ungerechten Gesellschaften sind sozialer Hintergrund und Beziehungen wichtiger als Begabung. Kürzlich ist eine Untersuchung veröffentlicht worden, in der gezeigt wurde, dass Berufserfolg in Schweden stärker von den genetischen Voraussetzungen abhängt als in den Vereinigten Staaten. Das bestätigt unser Bild von Skandinavien als einer sozial durchlässigen Gesellschaft.

Was bringen solche sortierenden Kollektivbefunde, wenn man doch dem einzelnen Menschen nicht ansehen kann, wie viel Prozent seines geistigen Vermögens genetisch und wie viel Prozent anderweitig beeinflusst ist?

Gesellschaftspolitisch lassen sich dennoch Schlüsse ziehen. So manches Akademikerkind bleibt in den Schulleistungen hinter den Erwartungen zurück und nicht selten zeigen Intelligenztests, dass das Kind nicht das Potential der Eltern hat. Das mag zwar enttäuschend für die Eltern sein, aber die Vererbung von Intelligenz ist eine sehr komplexe Angelegenheit, wo etliche Zufälle bei der Bildung von Eizellen und Spermien sowie bei der Befruchtung eine Rolle spielen.

Ich erinnere mich an eine entsprechende Filmpointe von Woody Allen...

Wenn die Eltern dabei das große Los gezogen haben, ist es nicht wahrscheinlich, dass das in der nächsten Generation noch einmal passiert. Umgekehrt können auch weniger intelligente Eltern Erbsubstanz in sich tragen, die ihrem Nachwuchs in einer gerechten Gesellschaft zu ungeahnten Höhenflügen verhilft.

Wie zuverlässig lässt sich das erwähnte große Los, der Höhenflug, denn mit Hilfe von Intelligenztests messen? Anders gefragt: Welche Auskunft über das geistige Vermögen eines Menschen gibt die effiziente Bewältigung von Denksport- und Knobelaufgaben?

Intelligenztests geben Auskunft über das geistige Potential einer Person, aber sie sind nur ein Baustein der menschlicher Kompetenz. Für die meisten Anforderungen auch im akademischen Bereich muss man kein Überflieger sein, und ein Weniger an Intelligenz kann durch ein Mehr an Fleiß ausgeglichen werden. Um seine Intelligenz nutzen zu können, muss man sie in einen Anforderungsbereich oder in ein Fachgebiet investieren.

Machen Intelligenztests in den Hochzeiten von Hirnforschung und Kognitionswissenschaft nicht doch einen etwas altbackenen Eindruck? Muss man nicht gar von einer speziellen Idiotie der Intelligenztests sprechen?

Das sehe ich anders. Wenn wie das Lernpotential einer Person in einem für sie neuen Gebiet vorhersagen wollen, dann sind Intelligenztests besser geeignet als alle anderen diagnostischen Maßnahmen. Mit nicht-sprachlichen Intelligenztests würde man auch manches begabte Immigrantenkind identifizieren können, das aufgrund seiner unzureichenden Sprachkompetenz falsch eingestuft wird. Es sind in Deutschland Fälle von straffällig gewordenen Migranten mit Hauptschulabschluss verbürgt, wo erst der Gefängnispsychologe eine Hochbegabung festgestellt hat.

Wird es im Sinne Sarrazins zu einem Einbruch des Durchschnitts-IQ in Deutschland kommen, wenn Menschen, die sich in der unteren Hälfte der Intelligenzverteilung befinden, mehr Kinder bekommen?

Nein. Vielmehr gehen wir davon aus, dass bei der Ausbildung und Entwicklung von Intelligenz sehr viele über alle Chromosomen verteilte Gene zusammenwirken. Eltern und Kinder zeigen nur eine mittelhohe Übereinstimmung im Intelligenzquotienten. Unterdurchschnittlich intelligente Eltern können überdurchschnittlich intelligente Kinder haben und umgekehrt. Das Ungleichgewicht in der Fortpflanzung müsste noch über viele Generationen gehen, bevor der IQ merklich absinkt. Die größte Gefahr für eine gesellschaftliche Verdummung besteht darin, dass soziale Herkunft für Schul- und Berufserfolg wichtiger ist als Intelligenz und Begabung.
Das Gespräch führte Christian Geyer.

In der "Zeit" griff die Intelligenzforscherin selbst zur Feder, um Sarrazin zu widersprechen. "Mit seinem mehrfach wiederholten Satz 'Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent erblich' zeigt Thilo Sarrazin, dass er Grundlegendes über Erblichkeit und Intelligenz nicht verstanden hat. Deshalb muss man auch viele seiner Folgerungen infrage stellen", schreibt sie. Das sitzt.
  • Faktenzweifel
Generell werden immer neue Zweifel an Sarrazins Argumentationsmethoden laut. Sein Buch wimmelt nur so von Zahlen - sie sollen vor allem seine zentrale These belegen, dass Deutschland sich durch Überfremdung abschaffe. Aber sind die Zahlen richtig?

Plasbergs Redaktion nahm sich eine Schätzung aus Sarrazins Buch vor, der zufolge der Anteil der Migranten an der deutschen Bevölkerung langfristig dramatisch wachsen wird. Sarrazin geht dabei davon aus, dass Geburten- und Zuwanderungsraten über 120 Jahre konstant bleiben. In 120 Jahren würden dann 71,5 Prozent der Menschen in Deutschland aus der Türkei, anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens oder Afrika stammen, behauptet er und beruft sich auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes.

Eben jenes Statistische Bundesamt lieferte der Redaktion dagegen eine andere Rechnung. Die Beamten legten Sarrazins Annahmen einer konstanten Geburten- und Zuwanderungsrate einfach auf die vergangenen 120 Jahre um. Auf der Basis von 1890 gerechnet, müssten heute rund 253 Millionen Menschen in Deutschland leben - etwa dreimal so viele wie tatsächlich. "Mehr als fragwürdig" seien die langfristigen Prognosen des Bundesbankers, schlussfolgerten die Bundesstatistiker, denn es seien nun mal zwei Weltkriege, die Pille und einige andere Faktoren dazwischengekommen. Die Botschaft: Solch langfristige Vorhersagen sind unmöglich bis unredlich. Sarrazin hatte dem in der Sendung inhaltlich wenig entgegenzusetzen und verwies darauf, er habe den Charakter der Schätzung im Text ja kenntlich gemacht.

Am Ende blieb die Frage im Raum, ob und wie weit sich Sarrazin die Fakten hingerückt hat, damit sie seine Argumentation stützen. Kritiker weisen darauf hin, dass man die Geschichte der Migration und Integration in Deutschland womöglich auch andersrum schreiben könnte. Dass immer mehr türkische Einwanderer nach Deutschland kommen, ist zum Beispiel schlicht falsch.

Der neueste Migrationsbericht der Bundesregierung notiert:
2008 gab es in der Bundesrepublik 28.742 Zuzüge von Türken - und 34.843 Fortzüge.

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